Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einer aktuellen Entscheidung (Az. 1 BvR 1246/20) vom 03.06.2020 erneut und mit deutlichen Worten bekräftigt, dass in äußerungsrechtlichen Streitigkeiten einstweiliger Rechtsschutz grundsätzlich nur nach vorheriger Anhörung der Gegenseite gewährt werden dürfe. Erfolge dies nicht, so sei das grundrechtsgleiche Recht auf prozessuale Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. Die Karlsruher Richter bestätigten damit eine Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 2018 (BVerfG, Beschluss v. 30.09.2018, Az. 1 BvR 1783/17).
Hintergrund der Entscheidung – Was war geschehen?
Im nun durch das Bundesverfassungsgericht – ebenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – vorläufig geregelten Fall stritten sich zwei Gewerkschaften um Äußerungen im Rahmen eines Webseiten-Beitrages.
Hintergrund des Streits waren Vorbereitungen für eine Personalratswahl einer Bundesbehörde. Die konkurrierende Gewerkschaft äußerte öffentlich ihren Unmut darüber, dass die Wahl durchgeführt worden sei, obwohl man sich bemüht habe, wegen der Corona-Krise eine Verschiebung herbeizuführen. Sie veröffentlichte in diesem Zusammenhang folgende Mitteilung:
“Ohne Rücksicht auf Verluste – DPolG und BdK fassungslos! GdP-geführter Hauptwahlvorstand hält am Wahltermin fest und vergibt große Chance!
In einem heute an alle Beschäftigten der Bundespolizei veröffentlichten Schreiben teilt der Hauptwahlvorstand mit, dass […] die Wahlen vom 12.-14. Mai 2020 ordnungsgemäß durchgeführt werden können.
Eindrucksvoller kann man seine Distanz zur Basis nicht dokumentieren! DPolG und BDK sind gemeinsam für die Beschäftigten […] bis in die ‚Hohe Politik‘ marschiert, um u.a. eine Verschiebung des Wahltermins zu ermöglichen. Am 8. April 2020 hat sich das Bundeskabinett mit der Initiative von DPolG und BDK befasst. Sowohl die Wahlordnung, als auch das BPersVG sollen im Sinne unserer Initiative geändert werden […]. Der GdP-geführte Hauptwahlvorstand hat sich aus dem Gesetzespaket nur den Teil herausgesucht, der ihm genehm war, nämlich die Durchführung der Briefwahl. […]. Da es keine sachlichen Gründe gegen eine Verschiebung der Wahl gibt und es bei der Ablehnung unserer Initiative offenbar ausschließlich darum ging, Machtspielchen auf dem Rücken der Beschäftigten der Bundespolizei auszutragen, ist es jetzt um so wichtiger, von Ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und das Kreuz an die richtige Stelle des Stimmzettels zu setzen.“
Landgericht Berlin erlässt einstweilige Verfügung
Die Mitbewerber-Gewerkschaft nahm diese öffentliche Mitteilung zum Anlass, ihren Konkurrenten wegen unwahrer Tatsachenbehauptungen zunächst äußerungsrechtlich abzumahnen und zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung aufzufordern. Da beide Parteien anwaltlich vertreten waren, wurden zunächst außergerichtlich Schreiben ausgetauscht, eine Unterlassungserklärung wurde nicht abgegeben. Die in Anspruch genommene Gewerkschaft hinterlegte stattdessen eine Schutzschrift beim Zentralen Register, in der sie ihre Rechtsansichten wiederholte und vertiefte und u.a. auch explizit auf die o.g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinwies, wonach in Äußerungssachen der Anspruchsgegner vor Erlass einer Anordnung zu hören sei.
Die anspruchsstellende Gewerkschaft beantragte beim Landgericht eine einstweilige Verfügung. Nach richterlichem Hinweis stellte sie sodann ihren Antrag um und ergänzte ihn um Hilfsanträge. In diesem Zusammenhang legte sie zwar die außergerichtliche Korrespondenz der Parteien, nicht aber die umfangreichen Anlagen vor, die ebenfalls ausgetauscht worden waren.
Ohne vorherige Anhörung der Gegenseite erließ das Landgericht Berlin am 30. April 2020 die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene einstweilige Verfügung (Az. 27 O 169/20) , die den ursprünglich gestellten Antrag zurückwies und dem Hilfsantrag – teilweise – stattgab. Die Gewerkschaft hatte bei Meidung der gesetzlichen Ordnungsmittel die Behauptung zu unterlassen, “der GdP-geführte Hauptwahlvorstand habe sich aus dem Gesetzespaket nur den Teil herausgesucht, der ihm genehm war, nämlich die Durchführung der Briefwahl”, bzw. die Behauptung, es gebe “keine sachlichen Gründe, die gegen eine Verschiebung der Wahl” sprächen. Eine Begründung des stattgebenden Teils der einstweiligen Verfügung enthält der Beschluss nicht.
BVerfG: Prozessuale Waffengleichheit verletzt
Die unterlegene Gewerkschaft erhob zunächst Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung, woraufhin das Landgericht Berlin den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 07.07.2020 (!) ansetzte.
Darüber hinaus erhob sie unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung Verfassungsbeschwerde, verbunden mit dem hiesigen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Diesem gaben die Karlsruher nunmehr mit deutlichen Worten statt. Da die Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit “offensichtlich zulässig und begründet” sei, sei die einstweilige Anordnung zu erlassen.
Das Bundesverfassungsgericht tenorierte:
“Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. April 2020 – 27 O 169/20 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt.“
Die Verfassungsbeschwerde sei trotz der Tatsache, dass die beschwerdeführende Gewerkschaft den Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft habe, zulässig. Obwohl über den Widerspruch noch nicht verhandelt, bzw. über ihn entschieden sei, habe das Landgericht durch seine Handhabung des Prozessrechts im Verfügungsverfahren prozessuale Rechte der verfügungsbeklagten Gewerkschaft verletzt. Dagegen sei ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf nicht vorgesehen. Insoweit sei der Rechtsweg jedenfalls doch erschöpft. Es sei dem Beschwerdeführer nicht zumutbar, über einen derart langen Zeitraum bis zur mündlichen Verhandlung einen Unterlassungstitel gegen sich wirken lassen zu müssen, den sie selbst für rechtswidrig halte.
In der Sache selbst sei die Verfassungsbeschwerde auch begründet. Das Bundesverfassungsgericht:
“Nach dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit kommt eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag […] grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern. Dabei ist von Verfassung wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in solchen Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auch auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn der Verfügungsantrag in Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht wird, die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sind und der Antragsteller ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht eingereicht hat.”
Nach diesen genannten Maßstäben verletzte der Beschluss des Landgerichts Berlin “offenkundig” das Recht der Verfügungsbeklagten auf prozessuale Waffengleichheit. Denn weder haben ihr die umfangreichen Anlagen vorgelegen noch sei sie über die späteren Hilfsanträge der Verfügungsklägerin, denen stattgegeben wurde, informiert gewesen und hätte Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt.
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