Am 28. November 2024 verkündete der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sein Urteil (Az. 1 BvR 460/23, 1 BvR 611/23), das die Verfassungsbeschwerden von Betreibern erneuerbarer Energieanlagen gegen die gesetzliche Abschöpfung von „Überschusserlösen“ zurückweist. Die Maßnahme wurde als verfassungsgemäß bestätigt und als gerechtfertigter Ausgleich zwischen außergewöhnlich begünstigten Stromerzeugern und stark belasteten Stromverbrauchern angesehen.
Hintergrund: Ukraine-Krieg und Energiekrise
Im Zuge des Ukraine-Krieges stieg der Erdgaspreis erheblich, was u.a. in Zusammenspiel mit der Abschaltung der Kernkraftwerke und dem politisch initiierten Fokus auf Gaskraftwerken, zu einem starken Anstieg der Strompreise auf dem europäischen Markt führte. Der (wenig marktwirtschaftliche) Preisbildungsmechanismus auf dem Strommarkt, bei dem die teuersten Kraftwerke den Einheitspreis bestimmen, führte dazu, dass Anlagen mit geringen Betriebskosten – wie Wind- und Solaranlagen – außergewöhnlich hohe Gewinne erzielten. Gleichzeitig wurden private und gewerbliche Stromverbraucher massiv belastet.
Rechtliche Grundlage: Strompreisbremsegesetz
Die Europäische Union verabschiedete eine Notfallverordnung, die Mitgliedstaaten verpflichtete, außergewöhnlich hohe Gewinne der Stromerzeuger abzuschöpfen und zur Entlastung der Verbraucher einzusetzen. Deutschland setzte diese Vorgabe mit dem Strompreisbremsegesetz um. Das Gesetz legt Obergrenzen für Erlöse fest, die je nach Erzeugungsart variieren. Überschreitungen werden abgeschöpft und über Netzbetreiber an Verbraucher weitergeleitet.
Die Verfassungsbeschwerden
22 Betreiber erneuerbarer Energieanlagen legten Verfassungsbeschwerden ein und argumentierten, dass die Abschöpfung ihre Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verletze. Zudem sei die Maßnahme als Sonderabgabe nicht finanzverfassungskonform, da die hohen Gewinne nicht durch ihre Anlagen, sondern durch Gaspreissteigerungen verursacht worden seien.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Gericht erklärte die Verfassungsbeschwerden für unbegründet und stützte seine Entscheidung auf folgende wesentliche Erwägungen:
- Rechtfertigung des Eingriffs
Die Abschöpfung greift zwar in die Berufsfreiheit der Anlagenbetreiber ein, dieser Eingriff ist jedoch formell und materiell gerechtfertigt. Die Maßnahme dient dem legitimen Ziel, einen Ausgleich zwischen außergewöhnlich belasteten Verbrauchern und begünstigten Stromerzeugern zu schaffen. - Keine Steuer oder Sonderabgabe
Die Maßnahme begründet keine steuerliche oder abgabenrechtliche Einnahme des Bundes, sondern stellt eine Umverteilung zwischen Privaten dar. Daher unterliegt sie nicht den strengen Anforderungen des Finanzverfassungsrechts. - Angemessenheit und Befristung
Der Eingriff ist angemessen, da er befristet (30. November 2022 bis 1. Juli 2023) und auf außergewöhnliche Gewinne beschränkt ist. Trotz administrativer Belastungen bleibt die Maßnahme verhältnismäßig. - Spezifisches Näheverhältnis
Die Betreiber profitieren unmittelbar von den hohen Strompreisen und stehen somit in einem spezifischen Verhältnis zu den Auswirkungen der Krise. Der Eingriff dient dem Interessenausgleich und kann nicht durch Steuermittel ersetzt werden.
Bedeutung des Urteils
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Abschöpfung von „Überschusserlösen“ bei Erneuerbaren Energien-Anlagen zeigt die Problematik staatlicher Wirtschaftslenkung auf. Der Eingriff in die Berufsfreiheit der Anlagenbetreiber wird zwar als verfassungsgemäß erklärt, ist jedoch zugleich Ausdruck eines grundlegenden Problems im Strommarkt: der Einheitspreisbildung.
Marktmechanismus mit systemischen Schwächen
Das europäische Modell der Einheitspreisbildung – bei dem die teuerste eingesetzte Energiequelle den Marktpreis für alle Anbieter bestimmt – hat in der Energiekrise versagt. Ursprünglich sollte dieser Mechanismus Anreize für kosteneffiziente Energieerzeugung schaffen. Stattdessen führte er während der Gaspreisexplosion zu unverhältnismäßig hohen Gewinnen bei Anlagen mit niedrigen Betriebskosten, insbesondere erneuerbaren Energien, ohne dass diese Anlagen einen kausalen Beitrag zu den Preissteigerungen leisteten. Die resultierenden außerordentlichen Gewinne waren nicht das Ergebnis marktwirtschaftlicher Effizienz, sondern einer systemischen Fehlfunktion des Preismodells.
Planwirtschaftliche Steuerung als Notlösung
Die Abschöpfung der Überschusserlöse, wie sie das Strompreisbremsegesetz vorsieht, ist letztlich eine planwirtschaftliche Maßnahme. Sie greift direkt in den Markt ein, um eine angenommene Verteilungsgerechtigkeit zu korrigieren und Kunden zu entlasten. Damit wird das Prinzip des freien Wettbewerbs durch eine staatlich verordnete Umverteilung untergraben. Diese Entwicklung zeigt, dass der Strommarkt in seiner aktuellen Form nicht in der Lage war, die krisenbedingten Herausforderungen ohne staatliche Eingriffe zu bewältigen.
Langfristige Folgen und Risiken
Das Urteil mag kurzfristig gerechtfertigt sein, um eine soziale und wirtschaftliche Notlage zu entschärfen. Langfristig wirft es jedoch Fragen auf:
- Werden Investoren durch solche Eingriffe abgeschreckt, in erneuerbare Energien zu investieren, da sie keine Planungssicherheit haben?
- Ist das Einheitspreisverfahren angesichts seiner Anfälligkeit für externe Schocks und der Ermöglichung staatlichen Eingriffs in den Markt noch zeitgemäß?
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt eine Entwicklung hin zu mehr staatlicher Steuerung im Energiemarkt. Das eigentliche Problem – die dysfunktionale Einheitspreisbildung – wird dabei nicht adressiert. Stattdessen ersetzt man einen unzureichenden Marktmechanismus durch planwirtschaftliche Umverteilungsmaßnahmen, die langfristig negative Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft des Energiemarktes haben könnten.
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